Samstag, 15. Dezember 2012

Riemann und die Habilitation

Vor einiger Zeit war ich auf einer Hochzeit eingeladen, auf der ein Mathematiker einen Cellisten heiratete. Und so sagte der Mathematiker: "Du hast mir die Schönheiten der Musik nähergebracht und ich habe versucht, Dir die Schönheiten der Mathematik näherzubringen." Ferner tat er den Anwesenden kund, dass sich eine von Riemanns Urenkelinnen unter den Gästen befände er und gerne Kontakt herstellen könne. Und so traf ich Riemanns Urenkelin. Eine wirklich nette Frau, die über ihren Urahnen bestens Bescheid wusste.

Krasse Mathematiker mit krassen Urenkelinnen
"Wen interessierts?", mögen eventuell mitlesende Biologen fragen. Wer ist denn überhaupt Riemann? Bernhard Riemann war einer der bedeutendsten Mathematiker des 19. Jahrhunderts. Obwohl er nur 40 Jahre alt wurde, lieferte er zu zahlreichen Gebieten der Mathematik bahnbrechende Beiträge. Er promovierte in Göttingen bei Gauss und ist den meisten für das Riemann-Integral bekannt, das ist das mit den Ober- und Untersummen, was in der Schule typischerweise gelehrt wird.

Unter Mathematikern ist vermutlich das bekannteste die von ihm aufgestellte Riemannsche Vermutung, die immer noch nicht bewiesen ist und eines der sieben Millenium-Probleme ist, es gibt also für den Beweis oder die Widerlegung 1 Millionen Dollar. Konkret geht es um eine vermutete Abschätzung, wie Primzahlen innerhalb der natürlichen Zahlen verteilt sind. Und da die Frage schon so lange offen ist, haben die Zahlentheoretiker mittlerweile auch schon drumrumgeforscht und die Vermutung durch schlechtere Abschätzungen ersetzt, die aber in der Praxis fast alles liefern was ein Zahlentheoretiker so braucht. Nun denn, ein weiterer Punkt sind seine Analysen nichtlinearer Riemann-Probleme, mit denen er einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Navier-Stokes-Gleichungen lieferte. Mein Strömungslöser besteht im wesentlichen aus unzähligen Aufrufen so genannter approximativer Riemann-Löser, die Riemann-Probleme näherungsweise lösen.

Einem theoretischen Physiker dürfte dagegen als erste die Riemannsche Geometrie in den Sinn kommen. Diese liefert eine abstrakte und gerade deswegen extrem nützliche Beschreibung gekrümmter Flächen, die es Albert Einstein erlaubte, die allgemeine Relativitätstheorie zu formulieren. Vorgestellt hat Riemann diese 1854 in seinem Habilitationsvortrag "Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen". Das verlinkte Dokument ist ein Redemanuskript, wie es von ihm damals in Göttingen vorgelesen wurde, entsprechend tauchen quasi keine Formeln auf. Unter den Zuhörern war der alternde Gauss, der sich selbst mit nichteuklidischer Geometrie beschäftigt hatte, aber mit seinen Ergebnissen dazu nie recht zufrieden war und sie nicht publizierte. Er war sehr angetan und sagte nicht wie bei manch anderer Gelegenheit, das hätte er ja schon lange in seinen Tagebüchern stehen.

Mir ist nicht klar, wie die Habilitationsordnung in Göttingen damals war. Anscheinend machte Riemann drei Themenvorschläge, von denen eines ausgewählt wurde, über das er dann vorzutragen hatte. Heutzutage ist es üblich, einen wissenschaftlichen Fachvortrag zur eigenen Forschung zu halten, sowie einen Probevortrag, bei dem die Lehrfähigkeiten der Kandidatin auf die Probe gestellt werden. Denn schliesslich geht es bei der Habilitation um die Verleihung der Lehrberechtigung ("Venia Legendi"), also muss dazu etwas vorgeführt werden. Darüberhinaus soll man zeigen, dass man zügig in fremde Themen einsteigen kann. Faktisch bedeutet das, dass man vor einem breiteren Publikum einen Vortrag hält, bei dem man die Leute nicht nach zehn, sondern nach zwanzig Minuten abhängt. Zu früh, und die didaktischen Fähigkeiten werden kritisiert, zu spät, und die mathematischen Fertigkeiten sind zu gering. Das Thema wird dabei von einer Komission ausgesucht, basierend auf Vorschlägen des Kandidaten, wobei es um Themen gehen soll, die abseits des eigentlichen Forschungsgebiets.

Ich selbst musste nur einen Probevortrag halten und durfte dann statt über diskrete Markovketten oder das mathematische Werk von Augustin Louis Cauchy, das SQP-Verfahren zum Besten geben. Und damit wurde mir, eine weitere Abstimmung das Fachbereichsrats später, tatsächlich die Habilitation zuerkannt. Eingereicht hatte ich im Januar, die Prozedur, die viele Tiefen und wenig Höhen hatte, hat also insgesamt 10 Monate gedauert.

Insofern zitiere ich einfach den ehemaligen Präsidenten der deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst Winnacker, der in der Zeit beklagte: "Die Habilitation, letztlich ein Herrschaftsinstrument altgedienter Professoren über den Nachwuchs, gibt es immer noch."

Und sonst:
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