Dienstag, 21. Juni 2011

Papier und Bleistift

Immer mal wieder werde ich gefragt, was krasse Forscher eigentlich so treiben. Und zwar zunehmend. Denn die meisten Leute können sich unter einem Studium etwas vorstellen (sowas wie Schule, nur an der Uni) und Doktorand ist einfach, da macht man halt was man so tun muss, um einen Doktortitel zu kriegen.  Aber was treibt jemand, der kein Professor ist und schon nen Doktortitel hat? Da fehlt den Leuten komplett das Bild, noch mehr bei einem Mathematiker. Biologen züchten Mäuse, Chemiker stehen am Bunsenbrenner, Physiker machen wichtige Experimente und Literaturwissenschaftler lesen. Nun, Mathematiker rechnen?!

Nein, natürlich nicht. Mathematiker machen Mathematik! Die Vorstellung dazu ist glaube ich jemand, der einsam in seinem Kämmerlein sitzt und denkt und mit Papier und Bleistift Formeln kritzelt.
Domenico Fetti: Archimedes (Denk, denk)
Nunja, da ist schon was dran. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist das Lesen und möglichst Verstehen von Artikeln und Büchern, was häufig ohne Paper und Bleistift nicht möglich ist. Auch das Arbeiten und Umformen mit Gleichungen (unter Mathematikern häufig Rechnen genannt), um neue Sachen herzuleiten ist wichtig und war früher sicher einer der wichtigsten Punkte. Das hat sich durch den Computer etwas geändert. Und zwar erlauben numerische Verfahren, sowie Computer-Algebra-Systeme, einfach mal zu schauen wie die Landschaft überhaupt aussieht, ohne zu komplexen Gleichungen irgendwelche Lösungen auszurechnen. "Einfach mal" bedeutet hier konkret mehr oder weniger fluchende Stunden, Tage oder Wochen programmierend zu verbringen. Dieses ist nach der Literaturrecherche die wohl zweitwichtigste Arbeit. Trotz allem ist die heutige Situation kein Vergleich zur Zeit vor Computern (da war Rechner ein Beruf und kein Gerät und Numeriker bestanden nicht auf Grossrechnerzugang, sondern Zugriff auf eine grosse Zahl an Rechnerinnen), der Lochkartenära oder der Zeit vor Monitoren. Forschung ohne graphische Ausgabe kann ich mir kaum vorstellen.

Grusel: Lochkarte für eine Fortran-Zeile: Harke, CC-by-SA 3.0
Die Probleme die in der numerischen Mathematik heute erforscht werden, sind so komplex, dass zu einer erfolgreichen Forschergruppe mittlerweile semiprofessionelle Softwareentwicklung gehört, sprich Code muss gepflegt und gewartet werden, so dass die nächste Generation von Doktoranden nicht bei Null anfängt. Das erfordert Softwaredesign, Versionskontrollsysteme, eine Arbeitsgruppe mit der ich zusammenarbeite macht sogar Regression Testing. All das ist durchaus ein organisatorisches Problem, da die Dauerstellen im Mittelbau im wesentlichen gestrichen wurden, Professoren für sowas keine Zeit haben und Doktoranden ja eigentlich an ihrer Doktorarbeit arbeiten sollen.

Der nächste wichtige Aspekt sind Dienstreisen. Ohne Konferenzen und den direkten Austausch mit Kollegen wird zum Einen die eigene Forschung provinzieller bzw. weniger relevant, dazu kommt aber auch ein enormer Motivationsschub weil man sehen kann, dass die meisten anderen auch nur mit Wasser kochen. Mir macht Reisen Spass und somit ist dieser Aspekt auch einer der Gründe, warum mir der Beruf so viel Spass macht. Ach ja und warum dieser Post etwas kürzer gerät, denn zur Zeit ist Schwitzen in Kalifornien angesagt. Aber es kostet enorme Zeit: An- und Abreise ist in der Regel am Wochenende, dazu kommt die Vorbereitung der Vorträge und die Organisation solcher Reisen wird einem ebenfalls nicht abgenommen.

Dann ist da das Schreiben von Artikeln, das Planen, Durchführen, Auswerten und Visualisieren von numerischen Experimenten, die Betreuung von Diplomanden und Doktoranden, in der Freizeit Lehre und das Schreiben von Gutachten für ebenjene, sowie die Peer-Reviews. Das erstmalige Erstellen einer Vorlesung kostet pro gehaltene Stunde zwischen vier und acht Stunden Arbeit.

Wenn man bei all diesen Sachen mal die Ruhe hat, mit seinem Bleistift ein paar Schmierblätter zu füllen, dann weiss man dass man was geschafft hat.

Und sonst:
  • Wer ist der sozialste Arbeitgeber in den ganzen U. S. of A.? Die linken Socken von der Armee!
  • Top ten, warum es toll ist, NBA-Champion zu sein. Erklärung.
  • Ziemlich spektakulärer Fall von versuchter Manipulation von Wikipediaartikeln durch einen Mitarbeiter seines Projekts Wiki-Watch, das sich nach Eigendarstellung des Projekts der Forschung beispielsweise zu Manipulationen von Wikipedia widmet. Gleichzeitig bietet das ganze einen recht guten Einblick in die Welt der Entscheidungsprozesse in der Wikipedia. Und der Chef des ganzen, seines Zeichens preisgekrönter Journalist und Merkelbiograph macht munter mit. 
  • Druckwelle des Wandels. Interessanter Artikel von von Volker Perthes zum arabischen Frühling.

Montag, 13. Juni 2011

Gunter Dueck: Aufbrechen!

 Auf der diesjährigen re:publica gab es einen Vortrag von Gunter Dueck, auf den mich einige aufmerksam gemacht haben. Das ganze wurde ins Internet gestellt und ich ertappte mich dabei, gebannt dem 45-minütigen Vortrag zu folgen. Nun habe ich sein Buch "Aufbrechen! Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen" gelesen und möchte es an dieser Stelle zum einen wärmstens weiter empfehlen und zum anderen zusammenfassen.

Das Buch lässt sich gut lesen, ist 200 Seiten dick und er untermauert seine Punkte durch leicht verständliche Beispiele, so ein bisschen Volkswirtschaft und Management für Dummies. Die Grundpunkte und ihre Konsequenzen werden sehr weit gedacht, und zwar in überzeugender Weise. Der einfache Stil hat natürlich auch einen Nachteil, und zwar dass er im Wesentlichen darauf verzichtet, seine Punkte durch wissenschaftliche Studien zu untermauern.

Sein Grundthema ist sozusagen die Zukunft und was die deutsche Gesellschaft seiner Meinung nach tun sollte, um in dieser Zukunft zu bestehen. Wer "Die Welt ist flach" von Thomas Friedman kennt, dem werden diverse Punkte vertraut sein. Konkreter geht es ihm um die stattfindende Industrialisierung der Dienstleistung, die insbesondere eine Konsequenz des Internets ist, und welche Folgen das für Wirtschaft und Gesellschaft hat.

Das Internet führt zu einer massiven Vereinfachung von Verwaltungsabläufen (Beispiel: Onlinebanking, elektronische Steuererklärung), aber auch dazu, dass Recherchen einfacher werden (Wikipedia, Google, etc.) und damit viele Dienstleistungen überflüssig werden. Einfache Dienstleistungen werden also entweder vom Kunden selber erledigt (Eintippen der Überweisung, Flugbuchung nicht mehr im Reisebüro, etc.) oder in den Niedriglohnsektor verschoben.  Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen aus dem Solartechnologiebereich, wo der deutsche Markt massiv durch chinesische Firmen unter Druck gesetzt wird, dass High-Tech-Billigproduktion kein tragfähiges Zukunftskonzept für Deutschland ist. Die Quizfrage ist nun, wie man damit umgeht.

Nicht nur diese Kollegen müssten sich heute einen neuen Job suchen
Seine Antwort ist, dass Deutschland sich dem Premiumsegment der Dienstleistungsgesellschaft verschreiben muss. Und zwar eröffnet das Internet neben dem enormen Druck auf einfache Dienstleistungen eine riesige Zahl an neuen Möglichkeiten für neue Angebote: Videotelephonie ermöglicht Telemedizin, "intelligente Systeme" bei der Energieerzeugung, neue Unterhaltungssachen, wie echte 3-D-Spiele oder die Live-Übertragung von Konzerten oder Sportevents ins Wohnzimmer. Dazu gehört auch der Aufbau von intelligenter Infrastruktur, von Ausbildungssoftware, aber auch der Umbau von Wohnungen, um eine Videowand zu installieren oder der Ausbau des Internets. Deutschland soll der Ort werden, von dem aus diese ganzen Dinge entwickelt und an die ganze Welt verkauft werden.

All dies erfordert aber einen Umbau des Bildungssystems und wie er meint, sogar einen Wechsel des Menschenbildes, aber dazu später mehr. Zunächst ist es einleuchtend, dass wenn Deutschland kein Niedriglohnland werden soll, dass dann für die oben genannten Sachen gut ausgebildete Leute gebraucht werden. Konkret fordert er: "Alle sollen studieren!"

Bevor ich dazu inhaltlich etwas schreibe, also warum das sinnvoll sein soll, ein paar andere Gedanken. Bei den meisten Leuten dürfte der erste Gedanke ja sein: "Das geht nur, wenn das Niveau gesenkt wird." Er setzt noch einen drauf und behauptet, dass die meisten Leute mit Abitur unterbewusst denken: "Das würde ja bedeuten, dass mein Abitur und damit mein sozialer Status abgewertet werden würde. Deswegen will ich das nicht." Nicht ganz von der Hand zu weisen. Nun denn, warum meint er, dass das geht? Weil zum Einen die Bildung in der Bevölkerung höher ist als vor 20 Jahren noch. Dass mehr Leute Abitur machen als früher muss also nicht zwangsläufig mit einer Senkung des Niveaus einhergehen. Wer Abitur hat, dessen Kinder machen auch Abitur. Die Frage ist also, wie man die restlichen Leute zum Abitur bringt. Nun ja, zum Einen ist es erforderlich, Begeisterung zu wecken (einfach gesagt, trotzdem ein wichtiger Punkt). Aber: Bessere Pädagogen auf allen Ebenen von Kindergarten bis Uni könnten da viel bewirken.

Dazu kommt, dass neue Medien neue Lerntechniken erlauben. Er behauptet, dass es unterschiedliche Lerntypen gibt. Heute würde also für die meisten das Lesen ein wesentliches Element des Lernens sein. Dies wäre aber eine Frage der Technik und nicht naturgegeben. An diesem Punkt bin ich etwas skeptisch, ich selbst kann mir neue Dinge am Besten durch Lesen aneignen, aber das kann natürlich der Effekt von 30-jähriger Übung sein. Hier hätte ich mir etwas mehr Untermauerung gewünscht, wie ich auch insgesamt seine scharfe Kritik an Lehrern nicht ganz nachvollziehen kann. Die neue Generation, die in den letzten 10 Jahren eingestellt wurde, ist schon ganz anders als die Generation aus den 70ern. Ach ja, er scheint Commons nicht zu kennen, auf jedenfall fordert er die Einrichtung eines solchen Portals und die Bestückung dessen mit Lehrvideos zu jedem beliebigen Thema, und zwar den Besten die es gibt.

Sei es wie es sei, hat er einige sehr gute Argumente für die Notwendigkeit: Denn damit, dass die heutigen Deutschen eine höhere Bildung haben als früher, steigen auch die Ansprüche. Im Kindergarten wird erwartet, dass die Kinder schon etwas lernen, vielleicht sogar mit Fremdsprachen in Berührung kommen. Ein Fachhochschulstudium wäre dem viel angemessener. Alle Studien zu Lehrern zeigen, dass zwischen dem Ausbildungsgrad des Lehrers und dem Lernerfolg der Kinder eine sehr hohe Korrelation herrscht. Konsequenterweise sollten also Grundschullehrer nicht nur eine dreijährige Ausbildung, sondern eine vier bis fünf-jährige Ausbildung machen. Bei der Bank sterben die einfachen Dienstleistungen aus. Was man braucht, sind Mathematiker, Volkswirte und Betriebswissenschaftler.

Der nächste wichtige Punkt ist, dass es mit besserer Ausbildung alleine noch nicht getan ist. Dazu kommt, dass die "neue Welt" Leute erfordert, die multikompetent sind, wie er das nennt. Wer also in der IT arbeitet, muss nicht nur fachlich kompetent sein, sondern sie muss auch ein Grundverständnis davon haben, was die Kunden wollen und darüber mit anderen Abteilungen kommunizieren können. Jeder muss in der Lage sein, sich selbst zu motivieren, etwas neues zu lernen. Dazu nennt er den Punkt der "negativen Arbeit". Wer einfache Dienstleistungen schlecht verrichtet, etwa langsam oder fehlerhaft, der sorgt im schlimmsten Fall dafür, dass genau diese Dienstleistung nochmal gemacht werden muss. Der Schaden ist also im schlimmsten Fall dass die Arbeit genau dieser Person nichts wert ist. Passiert dies aber auf einer höheren Ebene, kann schlecht verrichtete Arbeit dazu führen, dass Kunden und Aufträge verloren gehen, dass ganze Produkte neu designt werden müssen, etc. Der maximale Schaden ist also wesentlich höher, als nur die Arbeit dieser Person.

Gefordert sind also Leute, die fachlich, sozial, sprachlich, interkulturell, analytisch kompetent sind, die kreativ sind, schnell lernen, andere führen können, etc. Diese Dinge klingen viel, sind aber wenn man mal drüber nachdenkt, eigentlich Selbstverständlichkeiten. Die Grundfrage die er dahinter sieht ist: Was für ein Menschenbild haben wir und zu was für Menschen erziehen und bilden wir Leute aus?

Brauchen wir Leute die tun was ihnen gesagt wird, von 9-17 diese Dinge erledigen, sich für sonst nichts interessieren und dann nach Hause gehen? Oder selbstständige Menschen, die sich selbst weiterentwickeln wollen, die der Gemeinschaft helfen wollen? Nun ja, seine Antwort ist klar, letzteres.

Schließlich setzt er sich noch mit der Frage auseinander, was der Staat tun muss, um diese neue Gesellschaft zu ermöglichen. Sein wesentlicher Punkt ist, dass der Staat Infrastruktur bereitstellen muss. Will ich von überall nach überall Videotelephonie, muss die Bandbreite stimmen. Will ich eine wirklich florierende Internetwirtschaft, brauche ich ein Micropayment-System, aber auch eine digitale Identität, damit man sich nicht mehr bei jedem einzelnen Dienst neu anmelden muss, mit all der Gefahr von Passwortklau etc. Beides sind aber Dinge, wo seiner Meinung nach der Staat gefordert ist, entweder weil der Ausbau von Internet außerhalb von Ballungszentren unwirtschaftlich ist oder die Marktteilnehmer von alleine nicht in der Lage sind, sich auf einen Standard zu einigen.

Und an diesem Punkt hat er mich fast zum Weinen gebracht. Die bisherigen Punkte fand ich extrem spannend, teilweise hatte ich sie schon an anderen Stellen gehört, aber er brachte jetzt ein Beispiel. Und zwar hat es in Deutschland Zeit meines Lebens in meinen Augen eigentlich nur zwei zukunftsweisende innenpolitische Weichenstellungen gegeben (außenpolitische wie die Wiedervereinigung oder den Euro mal rausgenommen), nämlich die Agenda 2010 und den Atomausstieg und ansonsten nur armseliges Klein-Klein mit Blick auf die nächste Wiederwahl passiert, gepaart mit Duckmäusersystemen in vielen Partien, die durch unlimitierte Wiederwählbarkeit begünstigt werden. Vom Internet und den Herausforderungen der Zukunft scheinen viel zu wenige Bundestagsabgeordnete überhaupt etwas zu verstehen. Wie also soll das in Deutschland funktionieren, die Gesellschaft für diese Zukunft fit zu machen?

Nun: anderswo geht es. Im Westen sind Politiker Anwälte und ähnliches. In China und ähnlichen Ländern sind die Macher Technokraten. Und jetzt kommt das Beispiel: In Singapur wurde 2005 ein Plan verabschiedet, wo das Land 2015 in Bezug auf das Internet sein will und warum, siehe hier und hier. Da tauchen Wort auf wie 1Gbit Bandbreite für jeden, iPv6-Verträglichkeit und, man höre und staune, dass man das tun wolle, nicht nur um die Wirtschaft fit zu machen, sondern, ich zitiere
IDA is committed to bringing the benefits of infocomm technology to the population. Working with organisations in the people sector and the infocomm industry, IDA develops initiatives to encourage the less ICT savvy to enrich their lives through adopting infocomm and using infocomm in a more sophisticated way. This includes providing assistance to low income households, senior citizens and people with disabilities to acquire computers and get connected to the Internet.
Es geht also darum, Leute die nicht IT-affin sind, die wenig Geld haben, die alt sind oder aufgrund von Behinderungen Probleme bei der Internetnutzung haben, an der neuen digitalen Gesellschaft teilhaben zu lassen, um "ihr Leben zu bereichern".

So etwas will ich auch. Sein Lösungsvorschlag: Eine neue Partei. Ich bin gespannt.

Und sonst:

Montag, 6. Juni 2011

Wikipedia: Bild oder doch eher FAZ?

Der Kachelmann-Prozess ist zu Ende und sowohl das Gericht als auch die Medien haben sich vor allem darin hervorgetan, das Leben des Beschuldigten und zu Teilen auch der Klägerin zu ruinieren. Wenn in Interviews mit Ehemaligen Freundinnen des Wettermoderators das Sex-Leben des Mannes ausgebreitet wird, dann sind das klare Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die nicht mehr durch die Pressefreiheit gedeckt sind. Wenn er wollte, könnte Kachelmann die betreffenden Blätter auf Schadensersatz verklagen, was diese auch wissen und im Vorfeld einkalkulieren.

In der Wikipedia wurde das Thema wenig verwunderlich kontrovers und ausführlich diskutiert. Das Diskussionsarchiv für Mai bis November 2010 umfasst 180 Kilobyte, das sind so grob 40 Bildschirmseiten Text. In der Version vom 7. Juni 2010 wird nur kurz darauf eingegangen, dass er angeklagt ist und sich in U-Haft befindet. Dem vorangegangen waren Diskussionen, ab wann man diese Tatsachen überhaupt bringt und welches Medienecho eine Aufnahme in die Wikipedia rechtfertigt. Bis zum 1. Dezember wird der Abschnitt von 2 auf 5 Sätze erweitert. Mittlerweile ist dies ein eigener Abschnitt. Nie wurden seine sexuellen Vorlieben thematisiert oder die vorherigen Beziehungen. Anders gesagt hat sich Wikipedia in diesem Fall verantwortungsvoller und auch gesetzestreuer verhalten als viele sonstige Medien. Und insgesamt? Ist Wikipedia was den Umgang mit aktuellen Themen und insbesondere lebenden Personen angeht eher FAZ als eine Institution dessen, was sich Qualitätsjournalismus nennt? Oder eher BILD?

Die Frage wird dadurch wichtig, dass Wikipedia eine der meistgelesenen Websites der Welt ist. Was in Wikipedia über lebende Personen steht, hat also das Potenzial, die Wahrnehmung der Welt über diese Personen zu prägen, zu ändern und auch zu verfälschen.

Beim Support-Team, einer Gruppe von Freiwilligen, die Emails an die Wikipedia beantwortet, gehen mittlerweile täglich Emails von Betroffenen ein, denen etwas an ihrem Artikel nicht passt. Das können Eitelkeiten sein, aber auch Sachen, die für Außenstehende wie Eitelkeiten wirken. Etwa wenn eine Frau aus dem Showgeschäft schreibt, dass sie schon Absagen hatte, weil ihr Geburtsdatum bei Wikipedia stehe. Es können einfach nur blöde Scherze sein, die aber nicht entdeckt werden. Unter anderem solche waren es, die mich motivierten, die gesichteten Versionen zu entwickeln, die letztlich lebenden Personen Schutz gegenüber diesen Dingen liefern, da nun jeder Edit von nicht vertrauenswürdigen Leuten in der deutschsprachigen Wikipedia vorab begutachtet wird.

Barbara Streisand machte erste Erfahrungen mit dem Streisand-Effekt;
Allen Warren, CC-by-sa 3.0
Es können aber auch Fälle sein, bei denen der Betroffene Bundestagsabgeordneter ist und der Wikipediaartikel die Boulevardpresse mit Details über einen unschönen Streit mit einem ehemaligen Freund rezipiert. Und derjenige sich einen Anwalt nimmt, der im Endeffekt sorgt, dass dann auch die letzte Person weiß, dass sein Mandant ehemaliger Stasi-Mitarbeiter ist.

Manchmal sind es glatte Falschaussagen, die über Wikipedia verbreitet werden. Manchmal werden diese Falschaussagen durch alle öffentlich zugänglichen Quellen verbreitet. "Ja, aber ich muss es doch am Besten wissen", schreiben die Betroffenen dann ungläubig, wenn Wikipedianer Nachweise verlangen.

Die Wikimedia Foundation hat das Problem auf dem Schirm, so gibt es beispielsweise eine eigene Policy für Biographien lebender Personen und gerade eben hat sie eine Policy für den Umgang mit Photos lebender Personen verabschiedet. Nur bedeuten diese immer nur, dass die Communities in den Einzelprojekten angehalten sind, diese auch zu befolgen, nicht dass die Foundation diese durchsetzen würde.

In der deutschsprachigen Wikipedia ist es so, dass ein wesentlicher Teil der 1000 regelmässig Aktiven das Problem auf dem Schirm hat und sich der ethischen und moralischen Dimension bewusst ist. Und deswegen ist Wikipedia auch eher FAZ als BILD. Und da Wikipedia besser wird und die FAZ schlechter, wird es in zehn Jahren auch heißen: FAZ, eher BILD oder Wikipedia?

Leider gibt es auch einige laute Mitarbeiter (um nicht zu sagen Trolle), die sich als Kämpfer gegen Zensur sehen und stilisieren und jede Beschwerde Betroffener zu Wikipediaartikeln als unzulässige Beeinflussung bekämpfen, ungeachtet des Sachstands. Treten Probleme bei wirklich bekannten Personen auf, ist es somit auch nur eine Frage von Einsatz und Zeit, bis die Artikel den eigenen Ansprüchen von Wikipedia genügen: Am Ende gewinnen dann doch die besseren Belege.

Das, wo es wirklich schlimm wird, sind Personen, die nicht wirklich bekannt sind. Im schlimmsten Fall läuft das so ab: Person Y ist wenig bekannt, es gibt keine Quelle, die sich explizit mit ihr auseinandersetzt, aber sie erfüllt aber die Wikipedia-Relevanzkriterien im Bereich "Birchlog-Autor". Person X legt Artikel über Person Y ab. Die Motivation sei mal dahin gestellt, aber kürzlich habe ich gesehen, wie ein Artikel angelegt wurde, weil Verwechslungsgefahr mit einer anderen Person bestand. Anders gesagt: X hat keine Ahnung, wer Y ist, außer dem, was Google ausspuckt. Dies ist hier nun nicht viel, aber es gibt einige Fundstellen über dies und was, was Y so in seinem Leben getrieben hat.

Der Artikel ist damit ein Abbild dessen, was Google über Y weiß. Es ist kein Abbild dessen, was Y ausmacht und gibt somit, ohne dass er etwas falsches enthalten würde, ein Zerrbild dessen wieder, was Y in seinem Leben so getrieben hat. Unwichtige Aspekte, die Autor X nicht einordnen konnte, werden erwähnt und damit aufgebauscht. Wichtige Aspekte, die via Google nicht so einfach zu finden sind, werden nicht erwähnt. Die Inkludisten bei Wikipedia sagen nun: Das wird sich mit der Zeit schon bessern, irgendwann kommt jemand, der weiß mehr.

Nur: Die Erfahrung zeigt, das passiert nicht, bis dann irgendwann Y den Artikel findet und sich zu Recht beschwert. Typischerweise, indem der Artikeltext gelöscht wird, was von Vandalenjägern revertiert und mit Drohungen kommentiert wird. Was nun? Die kafkaeske Variante ist, einen Löschantrag zu stellen. Dann nämlich muss in der Diskussion nachgewiesen werden, dass die Person doch ein so ein kleines Licht ist, dass die Wikipedia-Relevanzkriterien nicht erfüllt sind. Wohlgemerkt ohne dass Y sich je gebrüstet hätte, wird jetzt öffentlich diskutiert, wies um die Meriten von Y steht und das Beste: Y würde sich freuen, wenn rauskommt, dass das noch nix ist mit der Berühmtheit. Gleichzeitig bemühen sich Leute, die es als ihre Aufgabe ansehen "Artikel vor Löschung zu retten" darum, die Relevanz im Artikel darzustellen, indem sie jedes noch zu unwichtige Detail was ihnen als relevanzbegründend erscheint, in den Artikel packen. Die Alternative zum Löschantrag ist, dass Y weitere Quellen bereitstellt, damit Wikipedianer die Unwuchten im Artikel beseitigen können.

All dies ist leider kein Scherz, ich beobachte das immer wieder, insbesondere im Bereich Wissenschaftler, bei dem viele Benutzer jeden Professor als relevant erachten, ungeachtet dass die meisten dieser nicht in der Öffentlichkeit stehen. So liefern viele Artikel zu Professoren in der Wikipedia ein Zerrbild oder sind Selbstdarstellungen von Leuten, die die Relevanzkriterien ausnutzen, um sich zu verewigen. 

Was tun? Ich schlage vor, dass die bestehenden Relevanzkriterien mit zwei wesentlichen anderen Richtlinien in Wikipedia abgeglichen werden: Dem Neutralen Standpunkt und der zu Artikeln über lebende Personen. Kurz gesagt kann ein qualitativ guter und ethisch vertretbarer Wikipediaartikel über eine lebende Person nur dann geschrieben werden, wenn ausreichend neutrale Quellen zur Person vorhanden sind. Ist dies bei der Personengruppe, um die es sich in dem Relevanzkriterium dreht, nicht der Fall, wird das Relevanzkriterium entsprechend verschärft. Gleichzeitig führt das weg von den unsäglichen Situationen, in denen Wikipedianer enzyklopädische Relevanz anhand von gefühlter Bedeutung bewerten.

Ach ja und ich schlage vor, dass die Nutzung der BILD als Quelle in der Wikipedia verboten wird.

Und sonst:
  • Wie eigentlich immer, ein lesenswerter Kommentar von Torsten Kleinz zur derzeitigen Kampagne, Wikipedia UNESCO-Welterbe-Status zu geben: Wikipedia ist Weltkultur – deal with it
  • Google-Art-Project: MOMA Museum of Modern Art. Fürs meistüberschätzte Werk Van Goghs rechts an der Säule vorbei, dann nach links zur Wand schauen (Danke an Margit).
  • Shaquille O'Neal arbeitet an seinem Doktortitel. (2'50 etwa)
  • Zwei Drittel der französischen AKW müssen vielleicht wegen der aktuellen Hitzewelle abgeschaltet werden (danke an Peter).
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