Montag, 6. Juni 2011

Wikipedia: Bild oder doch eher FAZ?

Der Kachelmann-Prozess ist zu Ende und sowohl das Gericht als auch die Medien haben sich vor allem darin hervorgetan, das Leben des Beschuldigten und zu Teilen auch der Klägerin zu ruinieren. Wenn in Interviews mit Ehemaligen Freundinnen des Wettermoderators das Sex-Leben des Mannes ausgebreitet wird, dann sind das klare Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die nicht mehr durch die Pressefreiheit gedeckt sind. Wenn er wollte, könnte Kachelmann die betreffenden Blätter auf Schadensersatz verklagen, was diese auch wissen und im Vorfeld einkalkulieren.

In der Wikipedia wurde das Thema wenig verwunderlich kontrovers und ausführlich diskutiert. Das Diskussionsarchiv für Mai bis November 2010 umfasst 180 Kilobyte, das sind so grob 40 Bildschirmseiten Text. In der Version vom 7. Juni 2010 wird nur kurz darauf eingegangen, dass er angeklagt ist und sich in U-Haft befindet. Dem vorangegangen waren Diskussionen, ab wann man diese Tatsachen überhaupt bringt und welches Medienecho eine Aufnahme in die Wikipedia rechtfertigt. Bis zum 1. Dezember wird der Abschnitt von 2 auf 5 Sätze erweitert. Mittlerweile ist dies ein eigener Abschnitt. Nie wurden seine sexuellen Vorlieben thematisiert oder die vorherigen Beziehungen. Anders gesagt hat sich Wikipedia in diesem Fall verantwortungsvoller und auch gesetzestreuer verhalten als viele sonstige Medien. Und insgesamt? Ist Wikipedia was den Umgang mit aktuellen Themen und insbesondere lebenden Personen angeht eher FAZ als eine Institution dessen, was sich Qualitätsjournalismus nennt? Oder eher BILD?

Die Frage wird dadurch wichtig, dass Wikipedia eine der meistgelesenen Websites der Welt ist. Was in Wikipedia über lebende Personen steht, hat also das Potenzial, die Wahrnehmung der Welt über diese Personen zu prägen, zu ändern und auch zu verfälschen.

Beim Support-Team, einer Gruppe von Freiwilligen, die Emails an die Wikipedia beantwortet, gehen mittlerweile täglich Emails von Betroffenen ein, denen etwas an ihrem Artikel nicht passt. Das können Eitelkeiten sein, aber auch Sachen, die für Außenstehende wie Eitelkeiten wirken. Etwa wenn eine Frau aus dem Showgeschäft schreibt, dass sie schon Absagen hatte, weil ihr Geburtsdatum bei Wikipedia stehe. Es können einfach nur blöde Scherze sein, die aber nicht entdeckt werden. Unter anderem solche waren es, die mich motivierten, die gesichteten Versionen zu entwickeln, die letztlich lebenden Personen Schutz gegenüber diesen Dingen liefern, da nun jeder Edit von nicht vertrauenswürdigen Leuten in der deutschsprachigen Wikipedia vorab begutachtet wird.

Barbara Streisand machte erste Erfahrungen mit dem Streisand-Effekt;
Allen Warren, CC-by-sa 3.0
Es können aber auch Fälle sein, bei denen der Betroffene Bundestagsabgeordneter ist und der Wikipediaartikel die Boulevardpresse mit Details über einen unschönen Streit mit einem ehemaligen Freund rezipiert. Und derjenige sich einen Anwalt nimmt, der im Endeffekt sorgt, dass dann auch die letzte Person weiß, dass sein Mandant ehemaliger Stasi-Mitarbeiter ist.

Manchmal sind es glatte Falschaussagen, die über Wikipedia verbreitet werden. Manchmal werden diese Falschaussagen durch alle öffentlich zugänglichen Quellen verbreitet. "Ja, aber ich muss es doch am Besten wissen", schreiben die Betroffenen dann ungläubig, wenn Wikipedianer Nachweise verlangen.

Die Wikimedia Foundation hat das Problem auf dem Schirm, so gibt es beispielsweise eine eigene Policy für Biographien lebender Personen und gerade eben hat sie eine Policy für den Umgang mit Photos lebender Personen verabschiedet. Nur bedeuten diese immer nur, dass die Communities in den Einzelprojekten angehalten sind, diese auch zu befolgen, nicht dass die Foundation diese durchsetzen würde.

In der deutschsprachigen Wikipedia ist es so, dass ein wesentlicher Teil der 1000 regelmässig Aktiven das Problem auf dem Schirm hat und sich der ethischen und moralischen Dimension bewusst ist. Und deswegen ist Wikipedia auch eher FAZ als BILD. Und da Wikipedia besser wird und die FAZ schlechter, wird es in zehn Jahren auch heißen: FAZ, eher BILD oder Wikipedia?

Leider gibt es auch einige laute Mitarbeiter (um nicht zu sagen Trolle), die sich als Kämpfer gegen Zensur sehen und stilisieren und jede Beschwerde Betroffener zu Wikipediaartikeln als unzulässige Beeinflussung bekämpfen, ungeachtet des Sachstands. Treten Probleme bei wirklich bekannten Personen auf, ist es somit auch nur eine Frage von Einsatz und Zeit, bis die Artikel den eigenen Ansprüchen von Wikipedia genügen: Am Ende gewinnen dann doch die besseren Belege.

Das, wo es wirklich schlimm wird, sind Personen, die nicht wirklich bekannt sind. Im schlimmsten Fall läuft das so ab: Person Y ist wenig bekannt, es gibt keine Quelle, die sich explizit mit ihr auseinandersetzt, aber sie erfüllt aber die Wikipedia-Relevanzkriterien im Bereich "Birchlog-Autor". Person X legt Artikel über Person Y ab. Die Motivation sei mal dahin gestellt, aber kürzlich habe ich gesehen, wie ein Artikel angelegt wurde, weil Verwechslungsgefahr mit einer anderen Person bestand. Anders gesagt: X hat keine Ahnung, wer Y ist, außer dem, was Google ausspuckt. Dies ist hier nun nicht viel, aber es gibt einige Fundstellen über dies und was, was Y so in seinem Leben getrieben hat.

Der Artikel ist damit ein Abbild dessen, was Google über Y weiß. Es ist kein Abbild dessen, was Y ausmacht und gibt somit, ohne dass er etwas falsches enthalten würde, ein Zerrbild dessen wieder, was Y in seinem Leben so getrieben hat. Unwichtige Aspekte, die Autor X nicht einordnen konnte, werden erwähnt und damit aufgebauscht. Wichtige Aspekte, die via Google nicht so einfach zu finden sind, werden nicht erwähnt. Die Inkludisten bei Wikipedia sagen nun: Das wird sich mit der Zeit schon bessern, irgendwann kommt jemand, der weiß mehr.

Nur: Die Erfahrung zeigt, das passiert nicht, bis dann irgendwann Y den Artikel findet und sich zu Recht beschwert. Typischerweise, indem der Artikeltext gelöscht wird, was von Vandalenjägern revertiert und mit Drohungen kommentiert wird. Was nun? Die kafkaeske Variante ist, einen Löschantrag zu stellen. Dann nämlich muss in der Diskussion nachgewiesen werden, dass die Person doch ein so ein kleines Licht ist, dass die Wikipedia-Relevanzkriterien nicht erfüllt sind. Wohlgemerkt ohne dass Y sich je gebrüstet hätte, wird jetzt öffentlich diskutiert, wies um die Meriten von Y steht und das Beste: Y würde sich freuen, wenn rauskommt, dass das noch nix ist mit der Berühmtheit. Gleichzeitig bemühen sich Leute, die es als ihre Aufgabe ansehen "Artikel vor Löschung zu retten" darum, die Relevanz im Artikel darzustellen, indem sie jedes noch zu unwichtige Detail was ihnen als relevanzbegründend erscheint, in den Artikel packen. Die Alternative zum Löschantrag ist, dass Y weitere Quellen bereitstellt, damit Wikipedianer die Unwuchten im Artikel beseitigen können.

All dies ist leider kein Scherz, ich beobachte das immer wieder, insbesondere im Bereich Wissenschaftler, bei dem viele Benutzer jeden Professor als relevant erachten, ungeachtet dass die meisten dieser nicht in der Öffentlichkeit stehen. So liefern viele Artikel zu Professoren in der Wikipedia ein Zerrbild oder sind Selbstdarstellungen von Leuten, die die Relevanzkriterien ausnutzen, um sich zu verewigen. 

Was tun? Ich schlage vor, dass die bestehenden Relevanzkriterien mit zwei wesentlichen anderen Richtlinien in Wikipedia abgeglichen werden: Dem Neutralen Standpunkt und der zu Artikeln über lebende Personen. Kurz gesagt kann ein qualitativ guter und ethisch vertretbarer Wikipediaartikel über eine lebende Person nur dann geschrieben werden, wenn ausreichend neutrale Quellen zur Person vorhanden sind. Ist dies bei der Personengruppe, um die es sich in dem Relevanzkriterium dreht, nicht der Fall, wird das Relevanzkriterium entsprechend verschärft. Gleichzeitig führt das weg von den unsäglichen Situationen, in denen Wikipedianer enzyklopädische Relevanz anhand von gefühlter Bedeutung bewerten.

Ach ja und ich schlage vor, dass die Nutzung der BILD als Quelle in der Wikipedia verboten wird.

Und sonst:
  • Wie eigentlich immer, ein lesenswerter Kommentar von Torsten Kleinz zur derzeitigen Kampagne, Wikipedia UNESCO-Welterbe-Status zu geben: Wikipedia ist Weltkultur – deal with it
  • Google-Art-Project: MOMA Museum of Modern Art. Fürs meistüberschätzte Werk Van Goghs rechts an der Säule vorbei, dann nach links zur Wand schauen (Danke an Margit).
  • Shaquille O'Neal arbeitet an seinem Doktortitel. (2'50 etwa)
  • Zwei Drittel der französischen AKW müssen vielleicht wegen der aktuellen Hitzewelle abgeschaltet werden (danke an Peter).

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